The Business of Brand Management
Brand Management Library

Branded Interaction.

Über Markenführung und digitale Transformation. 

Günther Misof:
Marco, mir hat immer gefallen, wie weit du mit deinen strategischen Ansätzen voraus gewesen bist und wie konsequent du sie verfolgt hast. Für mich hat kaum jemand wie du verstanden, dass es wenig bringt, einen vermeintlichen digitalen Heilsbringer nach dem anderen durch das Marketing-Dorf zu jagen, nur damit der Umsatz stimmt. Die digitale Transformation macht ohne jeden Zweifel Anpassungen der Markenstrategien notwendig. Bevor man aber blindlinks losrennt, sollte das neue Phänomen richtig verstanden und entsprechend eingeordnet werden. Nicht die kurzfristig gefüllte Kasse, sondern eine Markenbindung, die den Umsatz langfristig sichert, muss entgegen weit verbreiteten und anderslautenden Auffassungen auch bei der digitalen Kommunikation das Ziel sein.

Zu diesem Themenkomplex ist dir meines Erachtens ein beindruckendes Buch gelungen. Obwohl es als Handbuch für (digitale) Pragmatiker konzipiert ist, machst du sehr deutlich, dass trotz der speziellen Anforderungen an digitale Projekte, die meist vom Marketing initiiert sind, die grundsätzlichen Rahmenbedingungen für Marken nicht ausgeblendet werden dürfen. Aus meiner Sicht wurde dies in solcher Eindeutigkeit bislang noch nie formuliert.  

Nicht alles, was heute im Markenmanagement analog ist, wird morgen digital sein. Auch wenn der Titel „Markenführung in der digitalen Transformation“ auf den ersten Blick missverständlich interpretiert werden könnte, macht dein Ansatz doch eindeutig klar, dass die Grundeigenschaften einer Marke unverändert Gültigkeit haben, auch wenn Anpassungen für die digitale Welt unumgänglich sind. Obwohl darüber unaufhörlich publiziert wird, hat man im derzeitigen Digital-Wahn immer wieder den Eindruck, dass „digital transformation“ von Grund auf falsch verstanden wird. Nämlich ausschließlich als generelles Allheilmittel, und nicht als die Möglichkeit, bisher analoge Prozesse künftig effizienter digital umzusetzen. Was hierbei scheinbar immer wieder vergessen wird: Marke bleibt Marke – mit allen den Eigenschaften, Voraussetzungen, Anforderungen und Zielen wie in der Vergangenheit auch. Letztlich markieren digitale Marken-Touchpoints ja auch nur ein Kommunikationsmedium oder einen Kommunikationskanal. Fazit: Dein Buch ist mehr als ein Handbuch für Pragmatiker, es ist ein Standardwerk, das jeder Markenverantwortliche lesen sollte.


Marco Spies:
Ja, das sehe ich auch so – unseren Ansatz haben wir nicht von ungefähr mit „Branded Interactions“ betitelt. Ausgangspunkt waren die Erkenntnisse aus den Erfahrungen all die Jahre zuvor. Wir haben hautnah erfahren müssen, dass sich Markenagenturen mit digitalen Anforderungen extrem schwer tun, die Digital- bzw. Interactive-Agenturen wiederum wenig Verständnis für Marken aufbringen. Und auch die Markenunternehmen haben nicht wirklich verstanden, mit der neuen Situation richtig umzugehen. Dass digitale Transformation nun endgültig voraussetzt, die Marke konsequent aus der Sicht der Kunden zu definieren. Dass die (Unternehmens-)Persönlichkeit im Zentrum allen Geschehens, von jeglichen Aktivitäten steht, müssen nun alle Marken-/Marketingspezialisten verstehen, da das bisherige Sender-Empfänger-Prinzip ausgedient hat und das Markenmanagement neu zu organisieren ist. Zusammen mit meiner Partnerin Katja Wenger habe ich aus diesem Grund 2010 think moto gegründet. Es geht uns darum, neue Wege für Brand Strategy und Brand Management zu entwickeln. Wichtig ist dabei, digitale Produkte und Services als wesentliche Marken-Touchpoints zu verstehen und als solche zu behandeln.


Cecilie Schjerven:
Das neue Markenmodell habt ihr „Brand BIOS“ getauft. Was muss man darunter verstehen?


Marco Spies:
„BIOS“ steht für „Behaviour”, „Image”, „Offering” und „Story” – und somit für die Werte, die Verhalten übersetzen. Die Markenbedeutung kann nicht länger lediglich in Mission Statements definiert werden. Die „Markenpolizei“ hat sich überlebt, strategisches Design und Corporate Design arbeiten häufig an der Marke, wie sie aktuell funktioniert, vorbei. Heute geht es um „Living Brands“. Und lebendige Marken beziehen sich auf Offenheit, Dialogfähigkeit und auf Interaktion. Nicht die Vermittlung von Prinzipien, sondern die Vermittlung von markenadäquatem Verhalten ist entscheidend. Der Mitarbeiter als entscheidender „Touchpoint“ steht im Fokus, was der Haltungsvermittlung via „Brand Engagement“ bedarf, die in der Vergangenheit aber meist der Kostenbremse zum Opfer gefallen ist.

Günther Misof:
Unter „Living Brands“ verstehst du lebendige anstatt unveränderbare oder unbewegliche Markenauftritte, wie wir sie uns in der analogen Markenwelt schon immer mal gewünscht haben, was aber leider nie so recht vermittelbar war. Demzufolge wäre es wirklich wünschenswert, wenn die digitale Transformation zum besseren Verständnis der Anforderung an eine zeitgemäße Markenführung beitragen würde.

Cecilie Schjerven:
„Consumer Centricity“ bedeutet ja offensichtlich nicht ausschließlich „Data & Algorithm“ und ist somit auch nicht der alleinige Lösungsansatz. Stattdessen empfehlt ihr der Marke, künftig weniger auf Ratio und dafür mehr auf Emotion zu setzen. Emotion ist, wie ich es sehe, ja nicht gerade eine Kernkompetenz von Marketingmanagern. Speziell dem Service Design räumt ihr eine besondere Rolle ein, was für mich ganz klar „Marke vor Marketing“ bedeutet. Aber wird diese Notwendigkeit überhaupt von den Managern erkannt, die behaupten, dass sie keine Marke(n) zum Erfolg brauchen? Ist man unter diesen Umständen bereit, in Entwicklung und Personal zu investieren, denn kurzfristig wird damit kein Geld zu machen sein? Neigen diese Manager nicht eher dazu, digitale Transformation, die man ja mit schnellem Geld gleichsetzt, den Markengesichtspunkten mit seinen Eigenschaften und Werten unterzuordnen?

Marco Spies:
Mit unserem Modell arbeiten wir jetzt seit einigen Jahren, und wir haben die Erfahrung gemacht, dass große wie auch kleine Unternehmen durchaus erkennen, dass die 4 P´s nicht länger alleine ausreichen, um erfolgreich zu sein. Wir brauchen heute mehr als Marketing, und selbst die Unternehmen, die angeblich keine Marken zum Erfolg benötigen, setzen in Wirklichkeit verstärkt auf Markenstrategien. Uns war deshalb wichtig, eine Gebrauchsanleitung für das Zusammenspiel von Markenstrategien einerseits und der Umsetzung von digitalen Medien/Kommunikationsmitteln andererseits zu liefern. 

Günther Misof:
Sind agile Organisationsformen das Gelbe vom Ei? Keine Frage, digitale Projekte benötigen andere Formen der Organisation, als wir sie bislang in der analogen Welt genutzt haben. Außer Frage steht ebenfalls, dass Unternehmen sich heute für neue Organisationsformen öffnen müssen. Ihr empfehlt die agilen Organisationsformen, wie sie zur Steuerung bei digitalen Projekten Verwendung finden, auch für das Markenmanagement einzusetzen. Ja, die Notwendigkeiten für mehr Flexibilität, mehr Eigenverantwortung, mehr Zusammenspiel steht im Raum. Ich bezweifele allerdings, ob man die Organisationform für digitale Projekte auch für das Markenmanagement übernehmen kann. Marken benötigen einen obersten Markenverantwortlichen, eine „Persönlichkeit“, die diese Rolle engagiert übernehmen muss und die Marke an erster Stelle repräsentiert. Und sicher wird es in diesem Zusammenhang spannend sein, den sich abzeichnenden „postdigital“-Trend und seine Auswirkungen zu verfolgen.

Marco Spies:
Ja, die Marke braucht einen Product Owner, jemanden, der die Vision hochhält, die Anknüpfung an die Unternehmensstrategie gewährleistet und die Prioritäten definiert. Das lässt sich durchaus aus der Softwareentwicklung übernehmen. Wir  glauben, dass sich das sehr gut übertragen lässt: man braucht allerdings die richtigen Rollen in der Design-Organisation, einen iterativen Prozess zur kontinuierlichen Designweiterentwicklung und unterstützende Tools. Aber wie immer du das auch siehst: Die digitale Transformation erfordert in jedem Fall ein Umdenken. Die „alte Welt“ kritisiert an der „neuen Welt“ Oberflächlichkeit. Der „neuen Welt“ wiederum geht in der „alten Welt“ alles viel zu langsam. Die Herausforderung besteht darin, beides zu vereinen.  

Günther Misof:
Du hast es gerade erwähnt: Neue Organisationsformen und -strukturen machen vor den Marken- und Marketing-Tools nicht halt. Auch hier wird man sich mit einem Umdenken – bei Unternehmen wie auch bei Systemanbietern – befassen müssen, da ein Paradigmenwechsel im Raum steht.

Marco Spies:
Richtig, mit einem Paradigmenwechsel weg von großen, allumfassenden Systemen, von den Riesendinosauriern hin zu den sogenannten Microservices, zu Ökosystemen aus kleinen Anwendungen. Ich denke, der Zerlegung von umfassenden Anwendungen in einzelne Dienste gehört die Zukunft. Heute kommunizieren die verschiedensten Technologien miteinander, das Augenmerk liegt eher auf dem Schnittstellen-Management als auf der „großen Lösung“, wie man sie in der Vergangenheit präferiert hat. 

Günther Misof:
Wie geht ihr an Projekte ran? Was macht ihr anders als andere Berater?


Marco Spies:
Damit es nicht den Rahmen sprengt, dazu vielleicht soviel: Unsere Überlegungen, Modelle und Methoden basieren auf 7 Thesen, an denen sich unsere Gebrauchsanleitung, unsere Vorgehensweise orientiert.


Günther Misof:
Ich danke Dir sehr für das Gespräch, Marco.

Sieben Thesen für Markenführung in der digitalen Transformation. 

THESE 1

Die digitale Transformation ist im vollen Gange. 

Der „digitale Raum“ ist ein wesentlicher Bestandteil zeitgemäßer Markenführung geworden. In der ganzheitlichen Markenkommunikation sind die vielfältigen digitalen Kontaktpunkte in den Mittelpunkt gerückt.


THESE 2

Die Transformation erfordert neue Modelle der Führung und Unternehmensorganisation. 

Unternehmen müssen sich auf die neuen Herausforderungen einstellen. Die klassischen, zahlenbasierten Planungsinstrumente versagen immer häufiger angesichts der Komplexität und Volatilität der Märkte, der sich stetig verändernden (und wachsenden) Erwartungen und Bedürfnisse der Kunden und der sich rasch verändernden politisch-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen.


THESE 3

Die Marke entsteht an ihren Touchpoints.

Die wachsende Zahl digitaler Geräte und Formate schafft eine Vielzahl von Berührungspunkten zwischen Marken und Kunden oder Interessenten. Gerade die digitalen Touchpoints bieten in der Regel vielfältige Interaktions-möglichkeiten zwischen Kunden und Unternehmen – und damit großes Gestaltungspotenzial für das Markenerlebnis.


THESE 4

„Living Brands“: die neue Welt der Markenführung.

Marken haben eine andere Funktion als früher. Die Lebensstile der Konsumenten sind komplexer geworden. Die klassischen Kommunikationstypologien greifen meist zu kurz. Nutzer als Menschen mit individuellen Bedürfnissen und Handlungsmotiven zu sehen statt nur als Teil eines soziodemografischen Zielgruppensegments, zwingt Marken zu einer Neuausrichtung ihrer Strategien, die sich in fünf Punkten zusammenfassen lässt:

Kohärenz vor Konsistenz
Ein visuell konsistenter Auftritt ist nach wie vor wichtig, zunächst sollte jedoch die Frage nach dem sinnvollen Zusammenspiel der einzelnen Touchpoints und Services beantwortet werden.

Nachhaltigkeit statt Kurzfristkommunikation
Services und Mehrwerte, die der Marke eine Relevanz für den Konsumenten verschaffen, bleiben länger im Gedächtnis als saisonale Werbebotschaften.

Interaktion und Dialog statt Top-Down-Ansprache
Marken sollten ihren Kunden auf Augenhöhe begegnen; interaktive und soziale Medien erlauben die Einbeziehung des Kunden in Entscheidungsprozesse und erzielen damit eine nachhaltige Kundenbindung.

Kontinuierliche Weiterentwicklung statt Fortschritt in Schüben.
Interaktive Branding-Maßnahmen können agil weiterentwickelt und optimiert werden.

Das Interface ist die Marke, nicht das Logo.
Die klassischen Markensignaturen verlieren in dem Maße an Bedeutung, in dem neue, flexiblere Signaturen entstehen.

Fazit: „Living Brands“ werden durch „Branded Interactions“ erfahrbar.

THESE 5

Design ist die Leitkompetenz unserer Zeit.

Design hilft nicht nur, Produkte zu bewerben oder attraktiver zu machen, es ermöglicht auch, neue Märkte zu erschließen, steigert den Markenwert eines Unternehmens, optimiert Prozesse und hilft so, Kosten zu reduzieren. Und im Idealfall schafft es sogar Märkte, die es vorher gar nicht  gab. 


THESE 6

Prozesse und Rollen in Unternehmen und Agenturen verändern sich.

Mit der digitalen Transformation und der Fokussierung auf mensch-zentrierte Produktentwicklung verändern sich die grundlegenden Arbeits- und Vorgehensmodelle in Unternehmen – und auch in Agenturen. Lineare Workflows wie das klassische Wasserfallmodell haben sich für die digitale Produktentwicklung als zu starr erwiesen, um einerseits auf die Anforderungen einer ständig beschleunigten technologischen Entwicklung und andererseits auf eine nach wie vor instabile Weltwirtschaftssituation zu reagieren, in der Projekte oft kurzfristig gestoppt, verändert und wieder aufgenommen werden. Innovation und schnell erreichbare Projekt-(Zwischen)Ergebnisse sind mithilfe von agilen Entwicklungsmodellen besser zu realisieren.

THESE 7

Branded Interactions: Interaction Design ist die Kerndisziplin der Markenführung.

Bereits heute sind interaktive Anwendungen fest im Geschäftsmodell vieler Unternehmen verankert. Auch wenn es an vielen Stellen noch am notwendigen Kulturwandel hapert und der Umgang mit digitalen Anwendungen, Big Data und Nutzerbeteiligung unbeholfen ist – die Bedeutung von interaktiven Anwendungen und die Erfordernis, diese mensch-zentriert zu entwickeln – wird nicht mehr in Frage gestellt. Damit ist die Konzeption und Gestaltung solcher Anwendungen – das Interaction Design – eine Kerndisziplin geworden und es ist sinnvoll, hier nicht zwischen Produktentwicklung und Markenführung zu unterscheiden.

Cecilie Schjerven und Günther Misof von The Business of Brand Management sprachen mit Marco Spies, Gründer und Partner von think moto, Berlin.

Ein Beitrag von:
23. September 2019